erstkommunion1959Ohne Musik könne er nicht leben sagt er. Der coole Teeny der diese dramatische Information von sich gibt hat beide Ohren zugestöpselt. Das nagelneue iPod-Sound-System locker in die Markenjeans gekabelt. Ich höre den Sound dumpf dröhnen, bis zu mir.

Ohne Musik konnten wir ganz gut leben damals. Blockflöten war grauslich und unbeliebt. Kaum eines von uns Kindern besaß ein eigenes Radiogerät. Ganz selten hatten die Eltern sich einen Plattenspieler geleistet und die Entscheidung, welche Musik gehört wurde, traf der Vater. Es gab den Peter Kraus, die Conny Frohbös und den Freddy Quinn. Den Peter Alexander und den Vico Torriani. Wir hörten sie begeistert, wo immer es möglich war. Doch Musik war nicht wirklich unser Leben. Schon gar nicht meines, wenn ich in mühsamer beiderseitiger Qual meine Violinstunden an sauren Kollegsnachmittagen abzuleisten hatte.

Aber es gab da den Freitagabend. Ich wohnte im Jägerhaushaldenweg, eine Sackgasse mit Endstation Tzeschlockwäldle am Kempfhaus. Gegenüber stand ein altehrwürdiges Gesindehaus, das Tzeschlockhaus. Schauplatz großer Kinderabenteuer und aufregender Bubenstreiche. Mein Freund Peter wohnte da im ersten Stock und seine Familie.

Unten im Erdgeschoß aber probte die Stamusbla die Stadtmusik Sankt Blasien. Jeden Freitag ab Zwanzig Uhr. Mein Zimmer genau gegenüber.

Schon die Ankunft dieser an die vierzig Männer und ihre geheimnisvollen Geräusche, ihre Gesprächsfetzen, rückenden Stühle, klirrenden Bierverschlüsse und vereinzelt farzenden Probetöne auf verschiedensten Instrumenten, die derben Scherze und das heitere Gelächter, die strahlenden Läufe der Posaunen oder Tenorhörner faszinierten mich.

13 Jahre alt, unter meinen Freunden auf dem Kalvarienberg einer der ältesten wollte ich unbedingt zur Stadtmusik. Unbedingt dabei sein bei diesen beneidenswerten Männern mit ihren beeindruckenden Musikgeräten, mit ihren Märschen, Walzern, Polkatänzen und Korälen. Mit ihren schneidigen Uniformen, den zackigen Schirmmützen und den leuchtenden Schulterklappen.

Musikdirektor Einschütz, ein fescher Vorzeigeoffizier alter Schule und der Dirigent meines großen Traumes nickte wohlwollend als ich eines Tages mein Anliegen bebend vortrug.

„Du hast Glück Knabe.“ Stahlhart durchdrang mich sein Befehlshaberblick. „Ich beabsichtige bereits die Gründung einer Knabenkapelle und freue mich über jeden, der in den nächsten Wochen bei mir antritt. Sprich mit Deinen Freunden. Meldet Euch dann am nächsten Freitagnachmittag hier im Probelokal.“

Im Jägerhaushaldenweg wohnten viele Knaben damals. Alle schlichen am Freitag um das Tzeschlockhaus. Die Bürkbuben, die Hofgärtnerlümmel, der Reich Willi, der Steinert Klaus, der Tzeschlock Peter, der Sempfle. Aufgeregt spähten wir durch die halbblinden Scheiben auf die lockere Anordnung der Notenständer, Trommeln, Pauken und Stuhlreihen im Halbdunkel. Die Urkunden und Pokale an den Wänden.

konzert1959

Pünktlich um die Uhrzeit, die wir in der Aufregung längst vergessen hatten stand er dann vor uns, der Meister, der Chef und Prinzipal. Der Gründer Willi Einschütz. Demütig und leise, wie er uns befohlen, betraten wir die Hallen der Kunst. Es roch nach Staub, nach Bohnerwachs und Bier. In lockerem Kreise saßen wir um ihn gruppiert auf den abgewetzten Musikerstühlen. „Die Füße vom Sempfle und vom Hans-Peter reichen nicht bis auf den Boden“, so registrierte ich erleichtert. Die kriegen bestimmt noch kein Instrument. Beim Sempfle sollte ich Recht behalten. Er wurde wieder heimgeschickt. Lesen und Schreiben sei Voraussetzung zu einer Musikerkarriere.

Aus einem schrankartigen Holzspind dann das Tonwerkzeug. Eine Trompete namens Flügelhorn. Ein wenig gilb. Recht unhandlich. Ein wenig staubig. Wir dürfen hinein blasen. Man presst die Lippen. Mit der Zunge macht man …ta. Es pfuzget jämmerlich. Die Bürkbuben Rainer und Bernd können es am besten. Schpräätz. Die Mädchengesichter draußen an den spinnwebigen Fenstern verschwinden blitzartig. Schpräätz, jetzt kann es auch der Willi Reich. Wunderbar, der Kapellmeister zeigt Befriedigung. Das nächste Mal erkläre ich Euch die Klarinette. Und seid pünktlich, sonst setzt es was.

Woche um Woche werden Instrumente aufgetrieben. Bariton, Posaune, große Trommel, kleine Trommel, Waldhorn, Tenorhorn, der Heribert lutscht an seinem Klarinettenblättchen. Er kann es schon selber wickeln. Sein Bruder Hanspeter lutscht an einem Waldhorn. Ich besitze ein Helikon. Ein kreisrundes Rohr von einigem Ausmaß. Der löschkalkblinde Maurermeister Franz Straub hat es mir feierlich überreicht. Ich soll es nicht kaputt machen. Ein Mundstück wird er dann bestimmt auch noch finden. Ich putze das Bassgerät mit Sidolin und erzeuge furzartige Geräusche, bis mir mein Vater mit Hinrichtung droht. Im Tzeschlockhaus höre ich den Peter mit seinem Waldhorn markverzehrenden Schall erzeugen. Gegen ihn ist mein Vater machtlos. Ich registriere das mit Häme. Zeig’s ihm Peter. Peter ist mein bester Freund.

Nach einigen Freitagnachmittagen produzieren wir bereits so genannteTöne. Die Wochen vergehen. Wir werden immer mehr. Bald sind wir vierzehn Mitglieder. Oder zwölf …? Nein der Lüber bringt seinen Bruder mit. Dann sind wir mit dem Gülein Eichkorn fast siebzehn. Wenn der Häfner Peter mitmacht, der hat es dem Schwinken Goli versprochen.

Ein Kommen und Gehen. Dass uns die Mädels während der Proben beobachten dürfen, steigert unseren Ehrgeiz ausschlaggebend. Unter den spöttischen Augen von Heidi und Evi will keiner versagen.

Dann das erste Musikstück. Ergreifend, bewegend und mitreißend. „ Oh Schwarzwald, oh Heimat, wie bist Du so schön…“ Und ein Prozessionsmarsch „ Tam tataram tätäräm tä täterä“ Für den Weißen Sonntag. Der Ernst des Lebens beginnt. Wir werden auftreten.

Die Jungen aus der Stadtmusik werden uns verstärkend unterstützen. Der Berger Dieter, der Meyer Herbert, der Dorner Lupo, der Flügel Nönni, der Burger Edwin, der Aich Manfred. Gewaltig sind ihr Können und ihre Strahlkraft. Von allen Seiten kommt Unterstützung. Schirmeister, Eichkorn, Defrenne heißen sie. Und Guckenberger. Das Probelokal bebt. Das Konzert wird ein voller Erfolg. Weitere Monate vergehen. Die Jahre vergehen. Konzert um Konzert, Erfolg um Erfolg.

Die Knabenkapelle wird berühmt. Auch im entfernten Basel. Auch im Ausland. Ich will zur Stadtmusik. Ich kann das tiefe As auf meiner Tuba so mächtig rumpeln lassen, dass die Neonröhre vorne links über dem Fenster hastig blinkend verlischt.

Jedoch ich ahne nicht, dass gerade dieser mein unbedingter Wunsch endlich bei den „Großen“ mitspielen zu dürfen, den leisen schleichenden Beginn einer Jahre langen unangenehmen Fehde auslösen sollte. Knabenkapelle und Stadtmusik. Erfolg und Nachwuchssorgen. Die Knabenkapelle wird zur Jugendkapelle.

Die Nachwuchssorgen der Stadtmusik wachsen. Da ich manchmal wirklich gebraucht wurde bei den „Großen“, wechselte ich gleichsam unmerklich zur Stadtmusik. Und bald waren der Häfner Peter, der Mutter Erich und der Thomas Gehrke ebenso mächtige Bassisten wie der Windbergbauernsohn Rolf Nichziol, sodass mein Fehlen bei den „Jungen“ überhaupt nicht mehr registriert wurde

gruppenaufnahme1960_vor_domDie Knabenkapelle wurde Kult. Um die dreißig waren sie immer trotz dauerndem Wechsel durch Berufsausbildung, Bundeswehr oder plötzlich aufkommender Unlust und Probenschwänzung.

Dreißig schmucke Jungs in ihren strahlend weißen Hemden. Mit lustigen Fliegen um die gewaschenen Hälse und den Studentenmützen zur dunklen Tuchhose. Doch meine Erinnerung an die Freude der großartigen Konzerte in den Reihen einer immer mächtigeren Knabenkapelle verblasste zusehends.

Nach 4 Jahren Bundesmarine als nunmehr 22jähriger genügte es mir dann, im Rahmen grandioser Konzerte einer inzwischen erstklassig aufspielenden Knaben- und Jugendkapelle, den neben mir lauschenden begeisterten Zuhörern stolz zuzuflüstern: „ bei denen habe ich auch schon mitgespielt. Das waren noch Zeiten.“